Zur Veröffentlichung empfiehlt HaZett einer geschätzten Freundin Videos über 20 Bücher, die ihn prägten. Vielleicht sogar „Das letzte Buch“ selbst?
Liebe Skadett,
Du bist kürzlich dreißig geworden, oder? Dann wurdest Du geboren, als Logan Mountstuart schon einige Jahre tot war.
Entschuldigung, wer?
Schon okay. Woher sollst Du einen sensiblen britischen Dandy mit dunklen Augen kennen, der mit dem Soft-Porno »Die Mädchenfabrik« erfolgreich war, in den Adel einheiratete und von da an überall dabei war? Im Paris der Zwanzigerjahre, im Spanischen Bürger- und dem Zweiten Weltkrieg, in der Kunstszene New Yorks und ihren Orgien wie im konspirativen Umfeld des RAF-Terrorismus der Siebziger.
Genau, Logan Mountstuart hat all das und noch viel mehr miterlebt – Computer und Klimakatastophe mal außen vor –, mit dessen Ausläufern wir uns noch heute rumschlagen dürfen. Das Tollste an diesem Jahrhundert-Panorama aber: »Eines Menschen Herz« wurde von William Boyd als großzügig plauderndes Tagebuch geschrieben, in dem sich jahrelanges Leid einfach als Pause zeigt. Es ist quasi so etwas wie »Forrest Gump«, nur mit mehr Stil und fünfzehn Seiten eng bedrucktem Register. Fake-News also und authentisch in einem.
Ein Roman, vor dem ich den Hut ziehe. Gekommen bin ich auf ihn übrigens durch Simone Buchholz, die glaubt, dass dieses Werk Nichtleser zu Lesern macht. Verrate mal, ob das bei Dir geklappt hat.
Mein coolster Satz ist der letzte des Nachworts, auf Seite Vierhundertsechsundneunzig: »Es gab keine Nachrufe.« Tja, Logan Mountstuart, so spielt das Leben.
Dein HaZett
Liebe Skadett,
nächste Runde. Diesmal ein Sachbuch. »Big History« von David Christian denkt die menschliche Geschichte und die der Natur zusammen.
Klingt anspruchsvoll. Ist aber verführerisch gemacht. In acht Kapitel geht es um nicht weniger als unsere Welt.
Urknall.
Erste Sterne.
Elemente werden in sterbenden Sternen gebrannt.
Entstehung unserer Sonne.
Erstes Leben auf der Erde.
Homo sapiens schaut vorbei.
Landwirtschaft.
Beginn der Nutzung fossiler Brennstoffe.
That’s it. Aber das ist es natürlich noch lange nicht: David Christian ist, wie es in einer Kritik hieß, Wissenschaftler und Poet zugleich. Er redet nicht die Wirklichkeit schön, sondern öffnet uns die Augen für ihre Schönheit.
Hätte ich Lehrer wie ihn gehabt, solche, die unterhaltsam Neugier wecken können, meine Noten in Bio, Chemie und Physik wären klar besser gewesen.
Ich empfehle es Dir aber, weil ich weiß, wieviel Du zu tun hast. 13,8 Milliarden Jahre Geschichte auf 400 Seiten, kompakter geht es kaum.
Ach ja, der Lieblingssatz. Ist hoffnungsvoll. »Auch auf dem Friedhof«, sagt Christian, »gibt es noch Dinge, die sich bewegen.«
Dein HaZett
Liebe Skadett,
darf ich, der ich keine Ahnung von Kunst habe, meinen Lieblingsmaler vorstellen? Werner Büttner, geboren 1954, kam mit seinen Eltern kurz vor dem Mauerbau in die BRD, hat Jura studiert, in der JVA Tegel als Sozialhelfer sowie als Geldtransportfahrer gearbeitet, wurde zu den »Jungen Wilden« gezählt und war in Hamburg mehr als dreißig Jahre lang – kommod gepampert, wie er sagt – Professor für Unterhaltung der Art, also Malerei.
»Zuweilen ist Ehrlichkeit die eleganteste Maske« ist ein per E-Mail geführte Gesprächsband mit dem Galeristen Thomas Eller. Das Prinzip: Büttner schickt ein Bild, Eller kommentiert, Büttner kommentiert wiederum den Kommentar, wobei er oft abbiegt, auch falsche Fährten legt.
Büttners Bilder, die schnell gemalt wirken und durch Titel wie »Warum nicht aussterben?« weitere Ebenen eröffnen, sind ein nur kleiner Teil des Buches. Im Handel gibt es aber großformatige Sammelbände – ich lege Dir »Last Lecture Show« ans Herz.
Zum Text: In dem, Zitat, »heiteren Erzählwasser« herrschen Ironie und Spott ebenso wie heiliger Ernst. Es ist ein doppeldeutiger Austausch über die Zumutung Mensch, die Ohnmacht der Kunst sowie die Frage, ob und warum man trotzdem weitermachen muss. Schöne Formulierungen wie »Rollenkerker« oder »Pantoffelmäuler« gibt es oben drauf.
Ich schließe mit dem Satz, mit dem Büttner seine Studenten in die Ferien entließ: »Und nun geht raus und werdet anständige Menschen, Künstler gibt es genug.«
Dein HaZett
Liebe Skadett,
unter uns: Hast Du auch manchmal das Gefühl, die Welt geht in Flammen auf? Putin will Großrussland, Erdoğan das Osmanische Reich, Trump Amerika wieder groß machen, die AfD hat keine Probleme mit Ideen aus dem Dritten Reich.
Mich erinnert das politische Personal an jene Demenzkranken, die eine Umgebung aus ihrer Vergangenheit glücklich macht. Damit zu dem bulgarischen Autor Georgi Gospodinov, der diesen Weg in seinem Romanessay »Zeitzuflucht« magisch verdreht.
Ein Flaneur namens Gaustine gründet Kliniken, in denen jedes Stockwerk einer bestimmten Dekade nachempfunden ist, um Alzheimer-Patienten zu befrieden. Das Konzept von Nostalgie als Hilfe ist erfolgreich, auch die Gesunden wollen der Gegenwart entkommen. Also wird es erst kopiert, später skaliert. Ein Beispiel: Jedes EU-Mitglied darf irgendwann seine Lieblings-Dekade wählen.
Vorwärts in die Vergangenheit: Was anfangs gemütlich klingt, wie eine Reflektion über das Husten bei der ersten Zigarette, wird schnell kriegerisch in originalgetreu inszenierten Aufmärschen. Am Ende des Buches ist die Zeit komplett aus den Fugen.
Beginnt der Erzähler zu vergessen? Oder verweigert der Autor die Führung? Schließlich gab es vorher schon die Frage, ob Vergangenheit sich wohl zersetzt? »Oder bleibt sie wie die Plastiktüten praktisch unveränderlich, die alles ringsum langsam und tiefgreifend vergiften?« Reden wir in Zukunft drüber, okay?
Dein HaZett
Liebe Skadett,
»Big History«, vom Urknall bis heute, Du erinnerst Dich? Das Geschichtsbuch, dass ich Dir heute ans Herz lege, ist dreimal so dick und funktioniert ganz anders.
Jürgen Osterhammel war Professor an der Uni Konstanz für Neuere und Neueste Geschichte. Seine »Verwandlung der Welt« konzentriert sich allein auf das neunzehnte Jahrhundert, wobei er da nicht pingelig, kein Zahlenfetischist ist: Französische Revolution? Kommt vor. Harriet, die Schildkröte, die Charles Darwin persönlich kannte und im Juni 2006 starb? Auch.
Jedenfalls: Es geht um das Jahrhundert, in dem vieles entstand. Das heutige Aussehen europäischer Großstädte etwa, die Massenmedien oder ein fast allgemeingültiger Kalender. Im Zentrum stehen fünfzehn Kapitel, die sich je einem Thema widmen, der Mobilität, dem Lebensstandard, dem Wissen, der Arbeit. Na, Du erkennst das Muster.
Osterhammel sucht in fast allen Bereichen nach Mustern und bezieht dafür Afrika, Amerika und vor allem Asien mit ein. So entsteht eine faszinierende Globalgeschichte, Mosaik und Panorama zugleich. Das Klima lässt er allerdings aus, dafür gibt es »Zwischen Himmel und Erde« von Peter Frankopan.
»Alle Geschichte neigt dazu, Weltgeschichte zu sein«, sagt Osterhammel im ersten Satz. Frankopan und er zeigen mit ihren Büchern, die ich nur in Happen zu verdauen mag, warum das heute so ist.
Dein HaZett