Die Geschenkaktion

Zur Veröffentlichung empfiehlt HaZett einer geschätzten Freundin Videos über 20 Bücher, die ihn prägten. Vielleicht sogar „Das letzte Buch“ selbst?

#1 Ursula K. LeGuin
Liebe Skadett,
Du hast gefragt, selber schuld. Meine Auswahl darf also zwanzig Mal lächerlich sein – oder großartig. Und versprochen, keine Klassiker, die Dir im Deutschunterricht versaut wurden.
Ich beginne mit »Die Geißel des Himmels« von Ursula K. LeGuin, einer Gigantin, deren Romane Gehirne weiten.Es geht um einen George Orr, der nicht ohne Grund so heißt und der träumt wie Du und ich. Nur sind manche von seinen wirkungsvoller als unsere. So träumt er, dass seine Tante bei einem Verkehrsunfall stirbt.
Am nächsten Morgen erfährt er, dass sie tatsächlich vor sechs Wochen überfahren wurde. Als sich solche Auswirkungen häufen, die niemand mit ihm in Verbindung bringt, mag er gar nicht mehr schlafen. Recht abgewrackt landet er in einer psychiatrischen Klinik. Und ein Schlafforscher dort wittert die Chance, mit den fremden Träumen Gott zu spielen. Was er auch tut …
Ich mag den Roman ja, weil er zeigt, dass auch wohlmeinende Ideen grauenhafte Auswirkungen haben können. Denk nur an die Hippies des Silicon Valley, die uns voller Kalkül an ihre Algorithmen ausliefern. Du könntest ihn mögen, weil es eine so komplexe wie kompetente Studie der menschlichen Psyche ist. Aber keine Angst, es wird nicht immer so poserhaft.
Zum Abschluss versuche ich immer, Dir einen tollen Satz aus dem Buch zu liefern. Hier einer, ein einem Kapitel vorangestelltes Zitat: »Er stieg hinab, wach, zur anderen Seite des Traums.« Ist von Victor Hugo.
Dein HaZett
#2 William Boyd

Liebe Skadett,

Du bist kürzlich dreißig geworden, oder? Dann wurdest Du geboren, als Logan Mountstuart schon einige Jahre tot war.

Entschuldigung, wer?

Schon okay. Woher sollst Du einen sensiblen britischen Dandy mit dunklen Augen kennen, der mit dem Soft-Porno »Die Mädchenfabrik« erfolgreich war, in den Adel einheiratete und von da an überall dabei war? Im Paris der Zwanzigerjahre, im Spanischen Bürger- und dem Zweiten Weltkrieg, in der Kunstszene New Yorks und ihren Orgien wie im konspirativen Umfeld des RAF-Terrorismus der Siebziger.

Genau, Logan Mountstuart hat all das und noch viel mehr miterlebt – Computer und Klimakatastophe mal außen vor –, mit dessen Ausläufern wir uns noch heute rumschlagen dürfen. Das Tollste an diesem Jahrhundert-Panorama aber: »Eines Menschen Herz« wurde von William Boyd als großzügig plauderndes Tagebuch geschrieben, in dem sich jahrelanges Leid einfach als Pause zeigt. Es ist quasi so etwas wie »Forrest Gump«, nur mit mehr Stil und fünfzehn Seiten eng bedrucktem Register. Fake-News also und authentisch in einem.

Ein Roman, vor dem ich den Hut ziehe. Gekommen bin ich auf ihn übrigens durch Simone Buchholz, die glaubt, dass dieses Werk Nichtleser zu Lesern macht. Verrate mal, ob das bei Dir geklappt hat.

Mein coolster Satz ist der letzte des Nachworts, auf Seite Vierhundertsechsundneunzig: »Es gab keine Nachrufe.« Tja, Logan Mountstuart, so spielt das Leben.

Dein HaZett

#3 Julian Barnes
Liebe Skadett,
gleich hinterher das Buch, dass mich zum Lesenden gemacht hat. »Talking it over« von Julian Barnes.
Das Faszinierende an dem, nun ja, Roman ist, dass kein Wort geschrieben scheint. Das Personal besteht aus Stuart, einem biederen gutherzigen Bankangestellten, seinem Schulfreund Oliver, einem zynischen intellektuellen Angeber, und Gillian, einer klugen und schönen Ex-Sozialarbeiterin und Kunstrestauratorin. Als Gillian Stuart heiratet, verliebt sich Trauzeuge Oliver tragischerweise unsterblich in sie.
Ménage à trois, gab es schon, oder? Aber nie so. Wie in einer Gefühle melkenden TV-Talk-Show wenden sich alle drei direkt an uns, machen Witze, bieten Zigaretten an, werben für sich und ihre Entscheidung. So erzählt Gillian, dass sie auf dem Gemälde eines Ausritts ein übermaltes Wildschwein fand. Eben noch Frieden, nun eine Jagdszene. Die Fortsetzung »Love etc.« ist noch etwas schauriger.
Drei Menschen also. Drei beklommene, euphorische, wütende Sichtweisen. Dazu drei verschiedene, meisterhaft inszenierte Arten zu sprechen. Und natürlich die Frage: Wem glauben wir – warum?
Julian Barnes hat seinem bohrenden Blick in den Maschinenraum der Romantik ein russisches Sprichwort vorangestellt: »Er lügt wie ein Augenzeuge.« So wissen wir am Ende nicht, wer den Kampf um Liebe und Marktwert gewonnen hat. Vielleicht ist es so, wie es Stuart, inzwischen abgebrüht, bilanziert: »Love – or what people call love – is just a system for getting people to call you Darling after sex.«
Dein HaZett
#4 David Christian

Liebe Skadett,

nächste Runde. Diesmal ein Sachbuch. »Big History« von David Christian denkt die menschliche Geschichte und die der Natur zusammen.

Klingt anspruchsvoll. Ist aber verführerisch gemacht. In acht Kapitel geht es um nicht weniger als unsere Welt.

Urknall.

Erste Sterne.

Elemente werden in sterbenden Sternen gebrannt.

Entstehung unserer Sonne.

Erstes Leben auf der Erde.

Homo sapiens schaut vorbei.

Landwirtschaft. 

Beginn der Nutzung fossiler Brennstoffe.

That’s it. Aber das ist es natürlich noch lange nicht: David Christian ist, wie es in einer Kritik hieß, Wissenschaftler und Poet zugleich. Er redet nicht die Wirklichkeit schön, sondern öffnet uns die Augen für ihre Schönheit.

Hätte ich Lehrer wie ihn gehabt, solche, die unterhaltsam Neugier wecken können, meine Noten in Bio, Chemie und Physik wären klar besser gewesen.

Ich empfehle es Dir aber, weil ich weiß, wieviel Du zu tun hast. 13,8 Milliarden Jahre Geschichte auf 400 Seiten, kompakter geht es kaum.

Ach ja, der Lieblingssatz. Ist hoffnungsvoll. »Auch auf dem Friedhof«, sagt Christian, »gibt es noch Dinge, die sich bewegen.«

Dein HaZett

#5 F. Scott Fitzgerald
Liebe Skadett,
zugegeben, nicht ganz sauber von mir. Keine Klassiker, das hatte ich Dir verspochen. Und komme mit »Der große Gatsby« um die Ecke.
Aber es gibt zum Hundersten von F. Scott Fitzgeralds Meisterwerk eine Prachtausgabe. Mich begeistert die neue und – soweit ich das beurteilen kann – extrem elegante Übersetzung. Früher nannte Gatsby seinen jungen Nachbarn herablassend »alter Knabe«, nun nutzt er das schöne Boomerwort »Sportsfreund«, das gar ein wenig nach Fairness klingt.
Die Story kennst Du? Nachbar Nick Carraway erzählt so von der Seite von dem mysteriösen Millionär Jay Gatsby, seinen verschwenderischen Partys, seiner unerfüllten Liebe zu Daisy. Doch Gatsby ist vermutlich als Verbrecher zu Geld gekommen, den feiernden Gästen ist er eh egal, Daisy dagegen oberflächlich und schon reich verheiratet, mit einem fremdgehenden und gewalttätigen Rassisten. Das Ideal und sein Zerbrechen an der Realität ist also das Zentrum, viel Geld garantiert mitnichten Glück und Moral schon gar nicht.
»Der große Gatsby« platzt so fast vor Analogien zur Gegenwart, ist die Blaupause für Serien wie »White Lotus«, bloß mit weniger Mühe und mehr Grandezza.
Bei seiner letzten Begegnung sagt Carraway zu Gatsby: »Sie sind mehr wert als dieses ganze Pack.« Dass das sogar stimmen dürfte, macht das Lesen zu einem Vergnügen.

Dein HaZett
#6 Werner Büttner und Thomas Eller

Liebe Skadett,

darf ich, der ich keine Ahnung von Kunst habe, meinen Lieblingsmaler vorstellen? Werner Büttner, geboren 1954, kam mit seinen Eltern kurz vor dem Mauerbau in die BRD, hat Jura studiert, in der JVA Tegel als Sozialhelfer sowie als Geldtransportfahrer gearbeitet, wurde zu den »Jungen Wilden« gezählt und war in Hamburg mehr als dreißig Jahre lang – kommod gepampert, wie er sagt – Professor für Unterhaltung der Art, also Malerei.

»Zuweilen ist Ehrlichkeit die eleganteste Maske« ist ein per E-Mail geführte Gesprächsband mit dem Galeristen Thomas Eller. Das Prinzip: Büttner schickt ein Bild, Eller kommentiert, Büttner kommentiert wiederum den Kommentar, wobei er oft abbiegt, auch falsche Fährten legt.

Büttners Bilder, die schnell gemalt wirken und durch Titel wie »Warum nicht aussterben?« weitere Ebenen eröffnen, sind ein nur kleiner Teil des Buches. Im Handel gibt es aber großformatige Sammelbände – ich lege Dir »Last Lecture Show« ans Herz.

Zum Text: In dem, Zitat, »heiteren Erzählwasser« herrschen Ironie und Spott ebenso wie heiliger Ernst. Es ist ein doppeldeutiger Austausch über die Zumutung Mensch, die Ohnmacht der Kunst sowie die Frage, ob und warum man trotzdem weitermachen muss. Schöne Formulierungen wie »Rollenkerker« oder »Pantoffelmäuler« gibt es oben drauf.

Ich schließe mit dem Satz, mit dem Büttner seine Studenten in die Ferien entließ: »Und nun geht raus und werdet anständige Menschen, Künstler gibt es genug.«

Dein HaZett

#7 Jean-Patrick Manchette
Liebe Skadett,
ein purer Krimi gehört dazu. Du kennst ja meine recht grobe Formel, der zu Folge neunzig Prozent immer Mist sind. Von allem. Das Problem ist, sich mit anderen auf die guten zehn Prozent zu einigen. Und es gibt so viele Krimis …
Letztlich habe ich Jean-Patrick Manchettes »Die Position des schlafenden Killers« für Dich ausgewählt. In ihm geht es nicht darum, dass die Welt wieder in Ordnung gebracht wird – indem ein Verbrechen gesühnt oder brav erklärt wird. Dieser Roman ist in vielem eher anti: anti-bürgerlich, anti-literarisch, anti-moralisch, auch anti-romantisch. Aber auch schrecklich stilvoll. Das Thriller-Genre, das Manchette miterfunden hat, wird in Frankreich »Polar« genannt. Polar wie in: eiskalt.
Es geht um Martin Terrier, der als Auftragskiller sinnfrei arbeitet, so nur das Honorar stimmt. Anti-kapitalistisch ist der Roman also auch. Sein Grundplot dagegen – Terrier will aus sentimentalen Gründen aussteigen, seine Auftraggeber wollen es nicht – war vermutlich schon 1982 banal. Doch diese Sprache!
Sie meidet alle Klischees, ist betont sachlich, ohne Psychologie oder gar nach Mitgefühl heischend, gnadenlos entschlackt. Wobei der Twist am Ende dann doch sehr, sehr traurig stimmt. Der einzige aufklärerische Kommentar des Autors zu allem, was so an Schrecklichem passiert, lautet übrigens wiederholt: »Man kann es sich denken.« Und das tut man auch.

Dein HaZett
#8 Georgi Gospodinov

Liebe Skadett,

unter uns: Hast Du auch manchmal das Gefühl, die Welt geht in Flammen auf? Putin will Großrussland, Erdoğan das Osmanische Reich, Trump Amerika wieder groß machen, die AfD hat keine Probleme mit Ideen aus dem Dritten Reich.

Mich erinnert das politische Personal an jene Demenzkranken, die eine Umgebung aus ihrer Vergangenheit glücklich macht. Damit zu dem bulgarischen Autor Georgi Gospodinov, der diesen Weg in seinem Romanessay »Zeitzuflucht« magisch verdreht.

Ein Flaneur namens Gaustine gründet Kliniken, in denen jedes Stockwerk einer bestimmten Dekade nachempfunden ist, um Alzheimer-Patienten zu befrieden. Das Konzept von Nostalgie als Hilfe ist erfolgreich, auch die Gesunden wollen der Gegenwart entkommen. Also wird es erst kopiert, später skaliert. Ein Beispiel: Jedes EU-Mitglied darf irgendwann seine Lieblings-Dekade wählen.

Vorwärts in die Vergangenheit: Was anfangs gemütlich klingt, wie eine Reflektion über das Husten bei der ersten Zigarette, wird schnell kriegerisch in originalgetreu inszenierten Aufmärschen. Am Ende des Buches ist die Zeit komplett aus den Fugen.

Beginnt der Erzähler zu vergessen? Oder verweigert der Autor die Führung? Schließlich gab es vorher schon die Frage, ob Vergangenheit sich wohl zersetzt? »Oder bleibt sie wie die Plastiktüten praktisch unveränderlich, die alles ringsum langsam und tiefgreifend vergiften?« Reden wir in Zukunft drüber, okay?

Dein HaZett

#9 Jonathan Carroll
Liebe Skadett,
und weiter geht es. Heute habe ich mal etwas ausgesucht, weil ich weiß, dass Du Tattoos liebst. Wie viele hast Du eigentlich?
Graham Patterson, ein Comedian, den wirklich niemand lustig findet, hat nur eins. Und am Anfang des Romans nicht mal das. Dafür ist seine Karriere am Ende. Seine große Liebe hat er auch vergeigt. Und es sieht nicht so aus, als ob es in Zukunft besser werden würde. In eben dieser Krise lässt er sich aus einer Laune heraus stechen. Da der Autor aber Jonathan Carroll heißt, ist dieses Tattoo magisch. Im Wortsinn.
In meinen Augen kriegt es ja kein anderer Autor so geschmeidig und gekonnt hin, fantastische Welten mit Realität zu verheiraten. Immer wieder muss ich laut lachen und werde zu Tränen gerührt. Carroll kann, wie es in einem Kapitel heißt, Wasser zu einem Knoten binden. Das Tattoo jedenfalls bietet Patterson drei Leben zum Reinschnuppern an. Das mit Erfolg auf der Bühne. Das mit glücklicher Beziehung. Und das, welches er eh schon führt. Keines von denen läuft natürlich so wie erhofft. Und: Irgendwann ist Ende der Probezeit. Dann muss Patterson sich entscheiden …
»Mr. Breakfast« ist ein Buch wie ein guter Freund, der Dich schon lange kennt und Dir in aller Ruhe erklärt, was Dein Leben zum Glänzen bringt.
Kein Lieblingssatz deshalb diesmal. Es sind einfach zu viele.
Dein HaZett
#10 Jürgen Osterhammel

Liebe Skadett,

»Big History«, vom Urknall bis heute, Du erinnerst Dich? Das Geschichtsbuch, dass ich Dir heute ans Herz lege, ist dreimal so dick und funktioniert ganz anders.

Jürgen Osterhammel war Professor an der Uni Konstanz für Neuere und Neueste Geschichte. Seine »Verwandlung der Welt« konzentriert sich allein auf das neunzehnte Jahrhundert, wobei er da nicht pingelig, kein Zahlenfetischist ist: Französische Revolution? Kommt vor. Harriet, die Schildkröte, die Charles Darwin persönlich kannte und im Juni 2006 starb? Auch.

Jedenfalls: Es geht um das Jahrhundert, in dem vieles entstand. Das heutige Aussehen europäischer Großstädte etwa, die Massenmedien oder ein fast allgemeingültiger Kalender. Im Zentrum stehen fünfzehn Kapitel, die sich je einem Thema widmen, der Mobilität, dem Lebensstandard, dem Wissen, der Arbeit. Na, Du erkennst das Muster.

Osterhammel sucht in fast allen Bereichen nach Mustern und bezieht dafür Afrika, Amerika und vor allem Asien mit ein. So entsteht eine faszinierende Globalgeschichte, Mosaik und Panorama zugleich. Das Klima lässt er allerdings aus, dafür gibt es »Zwischen Himmel und Erde« von Peter Frankopan.

»Alle Geschichte neigt dazu, Weltgeschichte zu sein«, sagt Osterhammel im ersten Satz. Frankopan und er zeigen mit ihren Büchern, die ich nur in Happen zu verdauen mag, warum das heute so ist.

Dein HaZett